Hier stehe ich nun, meinem damals lang ersehnten Wunsch nach Erfolg etwas näher zu stehen…
Das Gefühl, wenn du dir deine Lieblingssocken überstreifst und du schon das Kribbeln in deinen Beinen spürst. Die Musik in den Ohren, die dich über den Asphalt fliegen lässt. Das Rauschen des Fahrtwindes. Spüren, wie du bei der Abfahrt immer mehr eins mit den Kurven wirst. Die Freude einen neuen, noch schöneren Weg in der Nachbarschaft entdeckt zu haben. Der Moment, in dem du abends den letzten Sonnenstrahlen entgegenfährst und komplett in deine Gedankenwelt abtauchst. Das durch nichts zu ersetzende Gefühl, zufrieden vor der eigenen Haustüre zu stehen und zu wissen, aber vor allem auch zu spüren, etwas für sich selbst gemacht, etwas geleistet zu haben. Dieses Gefühl vom Anziehen der Socken bis zum Salzgeschmack in dem Mund und beim Duschen danach. Diese Gefühle sind für mich durch Nichts zu ersetzen. Es sind die Momente, die mich fast täglich dazu antreiben wieder auf den Sattel zu steigen. Für mich ist es ein eskapistischer Akt, um dem Alltag zu entfliehen. Gleichzeitig sorgt es für Struktur. Vor allem an Tagen, an denen mich das Gefühl überkommt, nichts erreicht zu haben, erfüllt es mich mit Zufriedenheit, am Abend auf mein Fahrrad steigen zu können.
Ich habe die Geschwindigkeit vermisst
Knapp vier Jahre ist es her, als ich zum ersten Mal etwas überfordert mit Klickschuhen an einer Kreuzung stand. Meine Zweirad Geschichte fing jedoch auf dem Bike an, was mir ganz gut gefiel. Aber ich vermisste die Geschwindigkeit. Da kam es gerade gelegen, dass bei unserem Velohändler im Dorf ein Occasion Rennrad in meiner Größe herumstand. Voller Vorfreude wollte ich dann meine ersten Höhenmeter in Angriff nehmen. Ich war frustriert. Die Übersetzung war für mein Fitnesslevel noch viel zu groß, sodass ich den Berg nur mit Müh und Not hochkam. Ich war ernüchtert, habe das Rennrad in der Garage abgestellt und für eine ganze Weile dort gelassen. So konnte das aber nicht enden. Mit einem anderen, größeren Kranz habe ich einen neuen Versuch gestartet. Besser! Und mit besser meine ich, ich saß danach fast jeden Abend auf dem Rad – zumeist für mich allein. Da einerseits niemand in meinem Umfeld Fahrrad fuhr und ich es andererseits auch einfach so genossen habe. Ich denke, erst durch das Radfahren ist meine Gedankenwelt richtig gewachsen. Ich hatte Zeit mit mir selbst, Zeit zum Reflektieren und um Ideen wachsen zu lassen.
Sport bedeutet für mich Ausgleich
Durch meine sportliche Sozialisation vom früheren Geräteturnen bedeutet der Sport für mich aber auch noch etwas anderes: Leistung. Früh entstand in meinem Kopf das Bild, dass das Bestreiten von Wettkämpfen zum ernsthaften Sporttreiben dazugehört. Nur schon beim Schreiben dieses Gedankens merke ich, wie komisch sich das anhört. Trotzdem lässt mich der Gedanke nicht los. Schon immer habe ich zu erfolgreichen Sportler*innen aufgesehen und wollte einmal die Möglichkeit haben, das Schweizer National Trikot, in welchem Sport auch immer, überzuziehen. Verfressen in diesen Gedanken, habe ich begonnen immer mehr und intensiver zu trainieren. Es motivierte mich zu merken, wie ich die Runde fast doppelt so schnell absolvierte und sich mein Körper entsprechend veränderte. Angespornt durch diese Veränderungen habe ich im zweiten Jahr begonnen nach Trainingsplan zu trainieren und mein halbes Leben nach dem Radfahren ausgerichtet. Ich habe weiterhin alleine trainiert. Ich habe begonnen Freunde zu vernachlässigen, bin um 4 Uhr morgens aufgestanden, damit meine Trainingseinheit noch in meinen Tagesplan passt und mir selbst ein einziges Glas Wein untersagt. Ich dachte, das sei der Schlüssel zum Erfolg. Ich habe immer mehr vergessen, wie sich Radfahren anfühlt.
REFEEL
Die Momente, die ich zu Beginn beschrieb, waren verschwunden. Ich habe Trugbilder erfolgreicher Personen nachgeeifert, die ich bewundert habe und noch immer bewundere. Ich habe mich von Strukturen leiten lassen, die nicht meinen Prinzipien entsprechen. Hier knüpft die Entstehungsgeschichte meines Projektes «Refeel» an. Es ist ein Schritt auf meinem Weg diese verlorene Energie und die damit verbundenen positiven Gefühle zurückzugewinnen.
Nach spätestens zwei Stunden Radfahren merkt man, dass fürs Training nicht nur mentale Energie, sondern auch die Energiezufuhr für den Körper essenziell ist. Ich habe mich früher, und ehrlich gesagt auch heute noch manchmal, während meinen Ausfahrten praktisch nicht ernährt. Mir war lange nicht bewusst, wie wichtig das vor allem auch bei langen Ausfahrten ist. So stand ich wieder vor einer längeren Ausfahrt ohne Verpflegung in der Hand. Ein Riegel musste her! Und aus diesem Gedanke wurde ein Herzensprojekt — Refeel.
BERN
Ebenfalls noch nicht ganz abgeschlossen habe ich meine Geschichte als Radfahrerin. Vor etwas mehr als zwei Jahren bin ich für mein Studium in die Hauptstadt der Schweiz gezogen. Durch den neuen Standort haben sich auch neue Möglichkeiten ergeben. In der Nähe von Bern befindet sich einer von zwei Velodromen in der Schweiz. Die Chance wollte ich nutzen und habe mutig eine Anfrage an den Berner Trainingsstützpunkt geschickt. Nachdem ich einige Male weitergeleitet wurde, hat es geklappt. Ich durfte mit den Junioren einmal die Woche auf der Bahn trainieren. Es war das erste Mal, dass ich in einer Gruppe trainierte, das erste Mal, dass ich mich mit anderen gemessen habe und das erste Mal, dass ich merkte, wie wenig ich eigentlich über das Radfahren wusste. So bin ich langsam in dieses Umfeld dieser Leistungs-Radfahrgesellschaft gerutscht. Als Quereinsteigerin fiel es mir sehr schwer, in dieser Bubble richtig anzukommen. Ich habe mich in diesen Trainings nie ganz wohl gefühlt. Der Druck hat sich verstärkt, dadurch, dass ich noch leistungsschwächer, als die bis zu 7 Jahre jüngeren Junioren war. Durch diese Erfahrung habe ich sehr viel über mich, aber vor allem auch über andere Menschen gelernt. So habe ich letzten Sommer die Chance bekommen, in ein Bahn-Entwicklungskader vom Schweizer Radverband einzusteigen. Dadurch haben sich viele neue Türen geöffnet. Ich bekam die Möglichkeit in ein Radteam der Region einzusteigen und kann monatlich auf der Rennbahn beim Frauen National Trainier trainieren. Langsam sehe in Bruchteile des Radverbandes hinein, eine eigene Gesellschaft, in die man von aussen nicht direkt Einblicken kann. Ich habe jedoch gemerkt, dass es vor allem die richtigen Kontakte und auch die guten Leistungen braucht, um Einblick zu bekommen.
Hier stehe ich nun, meinem damals lang ersehnten Wunsch nach Erfolg etwas näher zu stehen. Aber jetzt, wo ich im richtigen Umfeld angekommen bin, hinterfrage ich diesen Wunsch nach sportlicher Anerkennung. Vielleicht auch, weil ich ihn in all diesen Jahren keinen namhaften Erfolg hatte. Vielleicht weil ich zu sehr in diese Welt passen wollte. Vor allem aber auch, weil ich Dinge im Leben entdeckt habe, die mir genauso wichtig sind wie das Radfahren. Dinge, wie mein Auge für Ästhetik, die Freude am Aussergewöhnlichen und Menschen bei denen man sich selbst sein kann.
Radfahren ist und bleibt eine Leidenschaft von mir und solange es noch möglich ist, möchte ich das auf einem leistungsorientierten Niveau weiterbetreiben. Jedoch mit einer guten Portion Selbstmitgefühl, einem aufrichtigem und freundlichem Umgang mit mir selbst. Sodass sich die Gedanken während dem Radfahren nicht mehr nur um Zahlen, Druck und Selbstzweifeln drehen, sondern um die fantasievollen, positiven Gedanken, wie es Refeel einer war.
Alessias Lieblingsroute